[ vice versa ]

Anette C. Halms Performances, Videoarbeiten und Malereien bedingen einander. Erscheinen bei anderen Künstlerinnen und Künstlern Arbeiten in unterschiedlichen bildnerischen Ausdrucksmedien als mehr oder weniger autonome Werkgruppen, unabhängig voneinander, bilden sich in ihrem Fall enge ursächliche Kontexte heraus, die sowohl inhaltlich als auch formal die inneren Bezüge deutlich werden lassen. Statt eines bis ins Detail durchformulierten Drehbuches oder eines ausgefeilten Storyboards sind so die Performances von Anette C. Halm während der Entstehung der großformatigen Leinwände – aus der je symptomatischen Malaktion heraus – entwickelt. Umgekehrt werden die aktuell in Angriff genommenen Malereien nicht etwa durch Skizzen oder kleinteilige Studien auf Papier vorbereitet, sondern generieren sich gewissermaßen aus dem unmittelbar Gesehenen und Erlebten des filmischen Arbeitens an anderer Stelle. Angesichts dieser komplexen transmedialen Vorgehensweisen – zwischen bewegtem und scheinbar unbewegtem Bild – kann es nur konsequent wirken, dass ausgewählte Video Stills der Künstlerin in einer Ausstellungssituation exemplarisch für das gesamte Set einer Performance zu stehen vermögen und in ihrer Gesamtheit demzufolge zu einer Foto-Edition zusammengefasst werden.

In mehreren deutschen Städten hat Anette C. Halm inzwischen ein umfassendes Performance-Projekt unter dem Titel „Kunst am Wegesrand“ realisiert, darunter auch in Nürtingen und Ostfildern, weitere – auch über den südwestdeutschen Raum hinaus – sind derzeit in Planung. In Zusammenarbeit mit national und international tätigen Performance-Künstlerinnen und -Künstlern setzt sie sich dabei an historisch verbürgten Orten mit der individuellen Lebensgeschichte und Wirkung herausragender, vorwiegend weiblicher Figuren der Regionalgeschichte verschiedener Kulturepochen auseinander. Die aufwendig inszenierten Aktionen sind jedoch nicht nur während ihrer Aufführung live vor Ort zu erleben, sondern mittels der eigens für Anette C. Halm entwickelten gleichnamigen App „Kunst am Wegesrand“ auch im Nachhinein mit dem Smartphone im öffentlichen Raum abrufbar. Auf diese Weise bleiben Teile eines nur allzu oft in Vergessenheit geratenen kulturellen Erbes bis in die Gegenwart hinein im allgemeinen Bewusstsein erhalten und auch einem gegebenenfalls nicht sonderlich kunstaffinen und jungen Publikum leicht zugänglich.

Waren in früheren Werkkomplexen Anette C. Halms vorwiegend autobiografische Erfahrungen in den Vordergrund der künstlerischen Auseinandersetzung gerückt (vgl. „12 Ways To Leave Your Lover“, 2015; „My Daughter Looking At Me, Looking At Eva Ionesco“, 2018 u.a.), weitet sich auf diese Weise ein überindividuell und überzeitlich geprägter Blick. Der bis an die Grenzen des selbstzerstörerisch Privaten in der Jetztzeit reichende Impetus wird mit von der Gesellschaft und Kultur aufoktroyierten weiblichen Rollenbildern und Klischees der Vergangenheit in allen möglichen Lebensfacetten in Beziehung gebracht und über die Beteiligung der zahlreichen, zu dem Projekt eingeladenen Künstlerinnen und Künstlern an gänzlich verschiedenen Orten nun überregional wirksam verknüpft.

Diese überindividuelle Unmittelbarkeit überträgt Anette C. Halm in gleichem Maße auch auf das Medium der Malerei. Für die seit 2008 entstehende Reihe großformatiger Gemälde unter dem Titel „Thinking About Video Art“ ist zwar die intensivfarbige, ungegenständlich-nichtfigürliche Auffassung charakteristisch, nichtsdestoweniger kommen in ihnen aber durch und durch körperliche Wahrnehmungen zum Ausdruck, die vom physischen Aktionsradius der Malerin geprägt sind und damit den ihr eigenen „Handlungsraum“ definieren. Den Rahmenbedingungen im filmischen Bereich nicht unähnlich, erfolgt so die Inszenierung der Farbe, in seriellen Schüben dem emotionalen Supremat eines einzelnen Farbtones – einer für die jeweilige Szene signifikanten Stimmung – nachforschend, die Choreografie der Lichtführung, die Konkretisierung der Form und deren Überblendungen ins ungewiss Diffuse umgekehrt.

In der Zusammenziehung malerischer wie filmischer Techniken mutet der nächste Schritt Anette C. Halms seit dem Jahr 2022 durchaus folgerichtig an, der eigenen Intuition nachspürend, einen Teil der so entstandenen, großformatigen Gemälde wiederum in kleinere Segmente von „Cuts“ (je ca. 30 mal 30 Zentimeter) aufzulösen. In frei kombinierbaren Sequenzen – das einmal Erfahrene mehrfach reflektiert und kritisch überprüft, die exzerpierten Einzelbilder zu einer fast filmischen Folge zusammengeschnitten und zu einem plausibel ablaufenden Kontinuum synchronisiert – ergibt sich in der Präsentation dieser Reihen eine neuartige, eigendynamische Dramaturgie von Form und Farbe. Gleichzeitig entstehen in jüngster Zeit ebenso auch malerische „Mind Samples“ als „Probeaufnahmen“ im kleinen Format auf Papier, um im Vorfeld der deutlich größeren Leinwandareale die in Frage stehenden Farbstellungen, aktuellen Kompositionsansätze und gefundenen malerischen Strukturen auf ihre Gültigkeit überprüfen zu können.

Insofern trifft der Begriff des „Mind Sample“ die konzeptuelle Vorgehensweise und die Wirkung der Arbeiten von Anette C. Halm in besonderem Maße. Die Grenzen von vermeintlich erstarrtem Bild und dem bewegtem Bild, hier von Malerei und Performance, da von Foto und Video, von einmal auf Dauer eingefrorener Erinnerung auf der einen Seite und imaginativem Gedächtnis eines höchst lebendig Gewesenen auf der anderen Seite, werden leichterdings überschritten und in verschiedenen künstlerischen Ausdrucksmedien sichtbar und nachvollziehbar gemacht. Das Eine ist nicht denkbar ohne das Andere.

Clemens Ottnad

Künstlerin Anette C. Halm fotografiert von Dimitri Reimer in Ihrerm Atelier der Kunstakademie in Nürtingen. https://reimer-photograph.com/portfolio/menschmontag_anettechalm/